ANTON BRUCKNER

(1824 - 1896)

Anton Bruckner

Anton Bruckners Freunde und Schüler erbaten von ihrem Meister die Zustimmung zu Retuschen und oft einschneidenden Änderungen in Form, Instrumentation und Artikulation seiner Werke, um dem Publikum den Zugang zu einer bisher unerhörten Klangwelt zu erleichtern.
 
Wir haben alle Ursache, diesen Freunden und Schülern für ihren missionarischen Eifer dankbar zu sein, geschahen die Änderungen doch durchaus im Interesse der Verbreitung von Bruckners Musik. Bruckner jedenfalls gab, um Aufführungen und Drucklegungen überhaupt erst zu ermöglichen, zur gewünschten Anverwandlung an den herrschenden Zeitgeist - vorläufig - sein Einverständnis. Vorläufig: Denn in seinen testamentarisch der Österreichischen Nationalbibliothek überantworteten Handschriften überlieferte er uns als „letztwillige Verfügung” seine Musik in jener Gestalt, in welcher er sie auf die Nachwelt kommen lassen wollte. 
 
Die bald nach Bruckners Tod unüberhörbar gewordenen Divergenzen zwischen den autographen Noten und der im Konzertsaal erklingenden Musik weckten den Ruf nach einer kritischen Gesamtausgabe, welche die Basis für authentische Aufführungsmateriale bilden sollte. 1929 fand in Wien die Gründungsversammlung der Internationalen Brucknergesellschaft (IBG) statt. Im Verlag Filser in Augsburg erschienen 1930 als erste Werke der Bruckner-Gesamtausgabe das Requiem und die Missa solemnis (Haas). Am 2. April 1932 führte Siegmund von Hausegger in München die Neunte Symphonie zweimal hintereinander auf: einmal in der bisher allein bekannt gewesenen, der Klangwelt Richard Wagners angenäherten und von Bruckners Manuskript entschieden abweichenden Druckausgabe, dann nach dem für die Gesamtausgabe vorbereiteten Notentext des Autographs.
 
1933 (der Verlag Filser hatte zu existieren aufgehört) rief die Internationale Bruckner-Gesellschaft eigens für die Herausgabe der Bruckner-Gesamtausgabe den Musikwissenschaftlichen Verlag Wien (MWV) ins Leben. Robert Haas als Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek wurde wissenschaftlicher Editionsleiter, Alfred Orel war sein erster Mitarbeiter, schon 1937 wurde Leopold Nowak Mitherausgeber. Dank jahrelang geleisteter Vorarbeiten konnten in rascher Folge zahlreiche Bände erscheinen.
 

Chronologie der Bruckner-Gesamtausgabe 1934-1944 (Editionsleitung Robert Haas)

 

Die Bruckner-Gesamtausgabe seit 1951

Nach Kriegsende kehrten IBG, MWV und Bruckner-Gesamtausgabe nach Österreich zurück. 1951 erfolgte ein Neustart unter der wissenschaftlichen Leitung von Leopold Nowak,  der mit einem korrigierten Reprint von Alfred Orels Ausgabe der 9. Symphonie den ersten Band der Anton Bruckner Gesamtausgabe unter seiner Editionsleitung vorlegte. Nowak revidierte zunächst die vor 1945 bereits ediert gewesenen Partituren, arbeitete neuentdeckte Quellen ein und eliminierte Druckfehler. Nowaks philologische Treue gegenüber den von Bruckner hinterlassenen (und von Bruckner immer neu überarbeiteten!) Notentexten erwies sich dabei als unvereinbar mit den von Haas in den Fällen der 2. und 8. Symphonie unternommenen Versuchen, durch ein Vermischen von Bruckners verschiedenen Werkfassungen eine Art „Idealfassung” herzustellen. Folgerichtig gab Nowak die 8. Symphonie in ihren voneinander entscheidend abweichenden Fassungen in zwei getrennten Bänden heraus, und er revidierte auch im Falle der 7. Symphonie zugunsten des „letztwilligen” Autographs jene Rückgängigmachung von Bruckners Überklebungen und Rasuren, die Haas in seiner Ausgabe vorgenommen hatte.
 

Chronologie der Bruckner-Gesamtausgabe 1951 - 1989 (Editionsleitung Leopold Nowak)

 

Chronologie der Bruckner-Gesamtausgabe ab 1990 

 

Sonderfall 9. Symphonie

 
Als Krönung seines Anton Bruckner gewidmeten Lebenswerkes hatte Leopold Nowak eine Neuausgabe der 9. Symphonie geplant und die Revision und Ergänzung der „Skizzen und Entwürfe zur Neunten Symphonie” (Orel 1934) vorgesehen. Wenige Tage vor seinem Ableben hat Nowak den australischen Bruckner-Forscher John A. Phillips mit der Aufarbeitung dieses umfangreichen Materials betraut.
 
Die von Phillips ohne jeden Zusatz vorgelegte und ausführlich kommentierte Rekonstruktion des Finale-Fragments einzig aufgrund der auf uns gekommenen Partitur-, Particell- und Satzverlaufsseiten zeigt einen weit gediehenen, zum Teil ausinstrumentierten Satz voll Kühnheit, worin leider einzelne der durchnummerierten Notenbogen verloren gegangen sind und der zum Ende der Reprise hin zusehends „ausdünnt”. Um auch einem breiteren Publikum vorführen zu können, in welchem Stadium der Komposition dem Meister die Feder aus der Hand genommen worden war, richtete Phillips das Finale-Fragment zusätzlich behutsam für die Wiedergabe im Konzertsaal ein.
 
Als Benjamin Gunnar Cohrs, wie Phillips seit Jahrzehnten mit Bruckners Neunter und ihren Quellen beschäftigt, den Kritischen Bericht zu den drei fertiggestellten Sätzen der Symphonie erarbeitete, erzwang die Fülle neuer Details den Entschluss, die Partitur neu herzustellen.
 

Revisionsberichte

 
Nowaks Anliegen war es vorrangig, alle Kompositionen Bruckners in „sauberen” und verlässlichen Notentexten vorzulegen. Die dazugehörigen Revisionsberichte sollten bei aller Wissenschaftlichkeit „lesbar” und der Praxis dienlich sein. Diese Arbeit konnte Nowak aus Altersgründen nur zum Teil leisten. Wie die folgende Aufstellung zeigt, liegen aber zum Großteil der Gesamtausgaben-Bände die Revisionsberichte gedruckt vor oder sind in Vorbereitung:
 
1. Symphonie, alle Fassungen (in Vorbereitung, Röder)
2. Symphonie, alle Fassungen (in Vorbereitung, Carragan)
3. Symphonie, alle Fassungen (Röder 1997)
4. Symphonie, alle Fassungen (in Vorbereitung, Korstvedt)
5. Symphonie (Haas - Nowak 1983)
6. Symphonie (Haas - Nowak 1986)
7. Symphonie (Bornhöft 2003)
8. Symphonie (Hawkshaw 2014)
9. Symphonie, 1. - 3. Satz (Cohrs 2002)
Studienband zum 2. Satz (Cohrs)
Studiensymphonie (Nowak 1981)
„Nullte” Symphonie (Nowak 1981)
Werke für Klavier zu zwei Händen (Litschauer im Nachdruck des Notenbandes 2000)
Werke für Klavier zu vier Händen (Litschauer im Notenband 1994)
Werke für Orgel (Horn 2001)
Abendklänge (Litschauer im Notenband 1995)
Rondo für Streichquartett (noch offen)
Vier Orchesterstücke (Bornhöft im Notenband 1996)
Ouvertüre g-Moll (Bornhöft im Notenband 1996)
Marsch Es-Dur (Bornhöft im Notenband 1996)
Streichquartett c-Moll (Nowak 1956)
Streichquintett / Intermezzo (in Vorbereitung, Gerold W. Gruber)
Requiem (Bornhöft 2000)
Missa solemnis in B (Haas - Nowak 1977)
Messe d-Moll (Bornhöft 1999)
Messe e-Moll (in Vorbereitung, Hawkshaw)
Messe f-Moll (Hawkshaw 2004)
Te Deum (noch offen)
Psalmen und Magnificat (Hawkshaw 2002)
Kleine Kirchenmusikwerke (Nowak 1984)
Kantaten und Chorwerke (noch offen)
Lieder für Gesang und Klavier (Pachovsky im Notenband 1997)
Weltliche Chorwerke (in Vorbereitung, Pachovsky)
 

Zur Geschichte der Bruckner-Gesamtausgabe

 
Leopold Nowak, „Die Anton Bruckner-Gesamtausgabe. Ihre Geschichte und Schicksale”, Bruckner-Jahrbuch 1982/83 (MV 203), und Herbert Vogg, „Ein Versprechen wurde eingelöst”, Bruckner-Jahrbuch 1997-2000 (MV 209), bzw. Mitteilungsblatt der IBG „Studien und Berichte” Nr. 56 vom Juni 2001.
 
 

Weiterführende Informationen

 
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